Zurück Interdisziplinäres Forum »Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne«
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Referate der 6. Arbeitstagung, 11. – 13. Februar 2005

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Die »Gräber der Gerechten« in Aschkenas in Mittelalter und Früher Neuzeit

Lucia RASPE

Lucia Raspe (Frankfurt/Main) berichtete über Bräuche, die sich in Aschkenas um die sogenannten »Gräber der Gerechten« seit dem Mittelalter entwickelten – von christlichen Gebräuchen inspiriert und kreativ umgedeutet. Die Rolle, die den –Gräbern der Gerechten« – qivre zaddiqim – im Gemeindeleben zukommt, ist im Judentum seit der Frühzeit umstritten. Die Unreinheitsvorstellungen, die sich seit alters mit dem Tod verbinden, waren vermutlich gerade dazu gedacht, jeden Totenkult im Ansatz zu unterbinden; nichtsdestotrotz gab es in der Antike eine blühende Wallfahrt zu den Prophetengräbern, und der Besuch etwa der Gräber chassidischer rebbes oder derjenigen jüdischer Heiliger in Marokko ist ein heutzutage vertrautes Phänomen. Die jüdische Kultur des mittelalterlichen Aschkenas ist dagegen bislang nicht für die postume Verehrung von Heiligen oder ihren Gräbern bekannt.

Die Tendenz einzelner hagiographischer Legenden, wie sie in Aschkenas seit dem dreizehnten Jahrhundert greifbar werden, sich in der physischen Realität ihrer Erzähler zu verorten, genauer: an den Gräbern ihrer Protagonisten, die sich – tatsächlich oder imaginär – auf den Friedhöfen der jeweiligen Gemeinden befanden, wirft allerdings Fragen auf. Es ist diese Ahnung eines historisch greifbaren »Sitzes im Leben« der aschkenasischen Hagiographie, wie er da und dort in den Quellen aufscheint, die vermuten lässt, dass sich in Mittelalter und Früher Neuzeit mehr an diesen Gräbern abgespielt haben könnte, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Individuelle Friedhofsbesuche zum Zwecke des Gebets am Grabe sind seit dem 13. Jahrhundert überliefert, zumeist im Kontext rabbinischer Rechtsgutachten in Bezug auf Gelübde, bestimmte Gräber – die der eigenen Vorfahren, der »Gerechten« im Allgemeinen oder der Opfer von Verfolgungen – auf bestimmten Friedhöfen aufzusuchen, eine Praxis, bei der einigen mittelalterlichen Gelehrten offenbar nicht ganz wohl war. Es wäre allerdings kaum zutreffend, daraus auf einen Graben schließen zu wollen, der in dieser Sache zwischen gelehrter Eliten- und populärer Volkskultur geschieden hätte. Nicht selten waren es gerade die großen Halachisten, die die Friedhofswallfahrten nicht nur guthießen, sondern selbst zu den Pilgern zählten; darüber hinaus scheinen die »Gräber der Gerechten« auch im Gemeindeleben des mittelalterlichen Aschkenas eine Rolle gespielt zu haben.

Man hat oft festgestellt, dass die jüdische Kultur im Mittelalter im Unterschied zum Christentum keine institutionalisierte öffentliche Wallfahrt kannte. Gemeindeprozessionen zu bestimmten Gräbern, insbesondere solche von Märtyrern, fanden hingegen sehr wohl statt. In vielen Gemeinden waren sie Teil des Rituals für Fast- und Bußtage, sei es an den Vorabenden von Rosch haschana und Jom Kippur, zu Tisch'a be'av oder im Rahmen von ad hoc angeordneten Liturgien zur Abwendung bevorstehenden Unheils. Solche Riten dürften erheblich dazu beigetragen haben, die Friedhöfe zu einem zentralen Ort für das kollektive Gedächtnis der jeweils eigenen Geschichte zu machen; was dies für die Herausbildung einer lokal spezifischen aschkenasischen Identität bedeutet, wäre noch auszuloten.

Ein dritter Aspekt schließlich betrifft den Wunsch, in der Nähe bestimmter Gräber begraben zu werden. Es heißt, anders als bei den Christen habe es im jüdischen Kontext keine Bestattung ad sanctos gegeben. Sicherlich dienten mittelalterliche Synagogen anders als mittelalterliche Kirchen nicht als Begräbnisstätten. Hinsichtlich der zugrundeliegenden Vorstellung allerdings, dass man sich in möglichst großer Nähe zu Personen bestattet wissen wollte, deren Teilhabe am Ewigen Leben gesichert schien, um sich ihrer Unterstützung in den Bemühungen um das eigene Seelenheil zu versichern, zeigt eine Untersuchung der »Geographie der Bestattungen« auf den Friedhöfen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Aschkenas, soweit sie sich heute noch nachvollziehen lässt, dass sich Juden auch hier offenbar nicht übermäßig von ihren christlichen Nachbarn unterschieden. All dies lässt uns ahnen, wie verschiedene Aspekte des Umgangs mit toten Heiligen, die das mittelalterliche Christentum in die Kirchen verlegt hatte, im jüdischen Kontext auf dem Friedhof nichtsdestoweniger gegenwärtig blieben.

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