zurück Interdisziplinäres Forum »Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne«
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Referate der 4. Arbeitstagung, 28. Februar - 2. März 2003

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»Anbringen der gesamten Judenschaft«: Die politische Vertretung der jüdischen Gemeinde vor dem Breisacher Rat im 17./18. Jahrhundert

Eva WIEBEL

Die beiden letzten Beiträge der zweiten Sektion näherten sich dem Tagungsthema am Beispiel der Interaktion zwischen jüdischen Untertanen und Obrigkeit.

Eva WIEBEL ging in ihrem Vortrag am Beispiel der jüdischen Gemeinde in der französischen, später vorderösterreichischen Festungsstadt Breisach der Frage nach, wie sich im 17. und 18. Jahrhundert eine neue jüdische Gemeinde gegenüber Stadt und Landesherrschaft formierte und positionierte. Wie regelte sie ihre Vertretung in rechtlichen und politischen Fragen? In welchen Bildern und Argumentationsfiguren sprach sie von sich?

Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Repräsentation dieser Judenschaft als Korporation innerhalb der Stadtgesellschaft - angeregt durch Mordechai Breuers Bemerkungen zum möglichen Vorbild »Zunft« und Mack Walkers nachdrückliche Aufforderung, auch im Hinblick auf die jüdische Geschichte die hohe Sensibilität der frühneuzeitlichen Gesellschaft für korporative Ordnungen und durch sie begründete Rechtsgemeinschaften in den Blick zu nehmen. Es ging also weniger um das Bild, das Rat, Kaufleute und Zünfte von den Juden zeichneten, als vielmehr um die Orientierung beider Seiten an korporativen Deutungsmustern bei der Selbst- und Fremddarstellung der Judenschaft. In den Quellen zu Anliegen und Konflikten, die die Judenschaft als Kollektiv betrafen, fallen solche Argumentationsfiguren immer wieder auf: (1) die Juden als österreichische Juden, (2) die Juden als Einwohner der Stadt, (3) die Analogie zwischen Judenschaft und Zunft, (4) die Analogie zwischen Judenschaft und abhängiger Dorfschaft, (5) die Judenschaft als religiöse Sondergruppe mit gewisser Gerichtsautonomie und schließlich (6) die Judenschaft als geduldete Randgruppe, deren Aufenthaltsrecht prinzipiell in Frage gestellt werden konnte.

Die Betrachtung der dokumentierten Konflikte (Wohnrecht und Zusammenleben, Beteiligung an städtischen Lasten, Regelungen für Handel und Zoll, Gemeindeautonomie) ergab folgendes Bild: Der Breisacher Rat stellte die Judenschaft dann als Teil der Einwohnerschaft dar, wenn Lasten zu verteilen waren. Auch nach außen präsentierte er die Juden als »hiesige Inwohner«. Dagegen lehnte er es ab, die Breisacher Judenschaft als Teil der österreichischen Judenschaft zu betrachten. Ging es innerhalb der Stadt um Handelserleichterungen für die Juden oder um bestimmte Fragen der Gemeindeautonomie, so setzten Rat und Zünfte ganz auf agonale Denkfiguren und beschrieben die Judenschaft als schädliche, nur geduldete Randgruppe, die sofort übermächtig werden würde, wenn man sie besser stelle. In anderen Fällen verglich der Rat dann wieder die Judenschaft mit den Dorfschaften oder sah sie als religiöse Sondergruppe mit begrenzten Autonomierechten.

Die Judenschaft ihrerseits adaptierte einige dieser Zuordnungen, verneinte aber den Vergleich mit den abhängigen Dorfschaften und überging geflissentlich alle Ausführungen zum Schutzstatus und zur Randgruppe. Die Breisacher Juden traten, wo es Sinn machte, als österreichische Juden auf. In Fragen der Vorsteherwahl orientierten sie sich explizit am Modell Zunft – Zunft wollten sie andererseits natürlich nicht sein, wenn es um die Veranlagung zu Steuern ging. Die Regierung schließlich sah die Breisacher Juden primär als österreichische Juden. Insgesamt begriff sie die Judenschaft als ökonomisch gleichzustellenden Teil der städtischen Einwohnerschaft.

Die jüdische Gemeinde war in politisch-rechtlichen Auseinandersetzungen somit immer wieder gezwungen, sich in die gesellschaftliche und rechtliche Ordnung der Stadt 'hineinzudenken', kontextabhängig eine Selbstdarstellung zu formulieren, die eigene Anliegen untermauerte oder Fremdzuordnungen widersprach. Der Vortrag machte deutlich, wie viel davon abhängen konnte, welches korporative Deutungsmuster in der Selbst- und Fremddarstellung ins Spiel gebracht oder stillschweigend vorausgesetzt werden konnte. Gerade im Dreieck der Auseinandersetzungen zwischen Judenschaft, Stadt und Regierung hatten Analogien, Vergleiche und proklamierte Zugehörigkeitsvorstellungen ganz handfeste Konsequenzen, indem sie Rechtsansprüche begründeten.

Da sich die Widersprüche zwischen den verschiedenen gedachten korporativen Zugehörigkeiten letztlich nicht auflösen ließen, konnte es auch keine einheitliche Selbstdarstellung der jüdischen Gemeinde als Kollektiv nach außen geben. Möglicherweise waren es aber gerade diese Unbestimmtheiten oder Überlagerungen, welche Spielräume für Veränderungen bieten konnten, die in einem Bild vom Status der jüdischen Gemeinde innerhalb der Stadtgesellschaft nicht denkbar gewesen wären.

Bericht: Birgit Klein

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